„Es glänzt der Himmel über dem Dach.
So blau, so stille …“
Paul Verlaine
Der Himmel über Paris, den Paul Verlaine von seiner Gefängniszelle aus betrachtete, erstreckte sich über hohe, von Dächern gekrönte Hausfassaden, die für den eingeschränkten Blick ein Stück Unendlichkeit einrahmten. Ein Gedicht aus der Sammlung „Weisheit“ bezieht aus diesem Bild seinen Titel: „Es glänzt der Himmel über dem Dach“.
Die hier vorliegenden, mit der Kamera eingefangenen Ausschnitte aus der unendlichen Weite des Himmels, die Bruchstücke des Himmelraums in den Innenhöfen von Paris, hat wohl Verlaine in ähnlicher Weise gesehen. Bei Joseph Carlson wird daraus eine bewusste Deklination von Formen. Indem er Innenhof für Innenhof und somit Himmel für Himmel systematisch fotografiert, schafft – ja „enthüllt“ – er ein reichhaltiges Formenvokabular.
Innenhof und Dach in ihrer natürlichen Wirklichkeit begründen eine Vielfalt von zwar vergleichbaren, aber niemals gleichen „Figuren“. Das fragmentierte, zunächst durch eine Fotografie konkretisierte Bild des Himmels wird abstrahiert, das heißt, es wird abgetrennt von der Wirklichkeit des ursprünglichen Kontexts.
Die Wiedergabe des Himmels – immer wieder mit einer neuen und einzigartigen Kontur versehen – tritt als eigenständige Form auf. So entstehen in nahezu endlosen Abwandlungen viele Himmel „über demDach“. Sie erscheinen in den Farben Schwarz und Weiß auf verschiedenen Untergründen: auf Leinwand, auf Holz oder als Wandrelief. Carlsons abstrahierende Vorgehensweise kehrt die Werte um. Die ursprüngliche Helligkeit des Modells Himmel wandelt sich zu Schwarz. Der Tag wird zur Nacht.
In den Raum gestellt und zu formalem Leben erweckt bildet ein Werk immer ein einzigartiges Objekt. Es entstehen einfache oder komplexere Werke, vom Diptychon bis hin zur umfangreichen Komposition, die entweder gleichartige Formen anhäuft und dekliniert oder verschiedene Figuren nebeneinander stellt. Eine solche Installation aus nicht weniger als sechzig Elementen erinnert unweigerlich an eine zusammenhängende Inschrift aus Piktogrammen.
Der Blick auf eine Leinwand oder Holztafel ruft den Ursprung in Erinnerung – die Abstraktion des ausgestanzten Himmels. Manchmal werden die Formen lebendig. Sie bedrängen sich, sie verknäulen sich und setzen ein dynamisches Geschehen in Gang.
Das kunstvolle, sorgfältige und geschickte Vorgehen von Joseph Carlson umfasst zunächst die Analyse und später die subtile Lenkung der „Trans-Formation“ ursprünglicher Muster. Die Bilder des von Dächern umrahmten Himmels haben sich befreit, um eine eigenständige Bedeutung zu gewinnen. Jedes Bild ist einzigartig und seine Korrespondenz sowohl mit dem Untergrund als auch mit den anderen Bildern führt den Betrachter auf eine meditative Entdeckungsreise. Er ist eingeladen, das Vokabular einer neuen Formensprache zu entziffern.
Obwohl Joseph Carlson auf formaler Ebene die Tradition der geometrischen Abstraktion fortführt, geht er doch weit darüber hinaus. Er schöpft seine Formen unmittelbar aus der Darstellung einer begrenzten räumlichen Wirklichkeit, die sich durch klare Konturen definiert. Die Formen bleiben Figuren. Damit entzieht sich das Werk der einschränkenden Klassifizierung als abstrakte Kunst. Denkt man in Zusammenhang mit Joseph Carlsons Werk an die abstrakte Malerei, fällt der Blick auf den „Suprematismus“ von Kasimir Malewitsch, da der großerussische Künstler dem Spannungsfeld zwischen der Form und dem Raum, der sie umgibt, eine Sonderstellung eingeräumt hat. Allerdings sind die malerischen Elemente bei Joseph Carlson im Gegensatz zum Suprematismus nicht vollständig von der figurativen Darstellung losgelöst. Das Verhältnis zwischen Form und Figur sowie dessen subtile Wahrnehmung machen die Originalität der Werkreihe aus, die unter der Bezeichnung „Dium“ zusammengefasst ist. Dieser generische Titel, der an die unendliche Weite des Himmelsgewölbes erinnert, meint auch die unendliche Vielfalt der Himmel, die uns „über dem Dach“ dazu einladen, über unsere eigene Beziehung zum (Welt-)Raum nachzusinnen.